- 积分
- 346
注册时间2024-2-9
最后登录1970-1-1
在线时间 小时
|

楼主 |
发表于 2025-5-22 16:09:54
|
显示全部楼层
Prolog: Ein seltsamer Autounfall
2
3 Der Unfallort, den er vorfand, machte Kommissar Li stutzig.
4 Zweifel und das Gefühl, es mit etwas völlig Irrationalem zu
5 tun zu haben, beschlichen ihn.
6 Diese enge, von steilen Felsen eingerahmte Schlucht war
7 mindestens hundert Meter tief. Blickte man nach oben, war
8 nur ein verschwommener Umriss aus Grau in Grau zu erkennen.
9 Die verstreut aus der Felswand ragenden, scharfkantigen
10 Felsbrocken erinnerten an das Gebiss eines Wolfes. Beim
11 Sturz aus dieser Höhe wäre selbst ein Klippenspringer davon
12 in Stücke gerissen worden. Nicht viel besser war es dem
13 Wagen ergangen.
14 Kommissar Li wandte sich um und warf erneut einen prüfenden
15 Blick auf den Jeep, dessen Karosserie sich aufgrund der
16 Hitze des Feuers bereits verzogen hatte. Durch den Aufprall
17 waren die Glasscheiben zersplittert, die Türgriffe
18 zerbrochen und die Reifen in alle Richtungen geschleudert
19 worden. Merkwürdigerweise war der Rahmen des Wagens intakt
20 und nicht völlig zerknautscht wie es bei solchen Unfällen
21 sonst meist der Fall war. Noch seltsamer war, dass die
22 Leichen der Wageninsassen durch die Verbrennungen zwar
23 deformiert, ihre Gesichtszüge aber noch gut zu erkennen
24 waren. Es handelte sich um drei Männer und eine Frau, die
25 sorglos und unbekümmert gewesen zu sein schienen. Offenbar
26 hatten sie kurz vorher an einem Festessen teilgenommen und
27 danach - gesättigt, leicht angeheitert und guter Dinge - den
Yi Gao: Der römische Ring Seite 2 von 432
1 Rückweg angetreten. Normalerweise standen Menschen nach
2 einem Sturz aus über hundert Meter Höhe noch die Angst und
3 das Entsetzen ins Gesicht geschrieben.
4 Wenn Kommissar Li nicht früher schon einmal wegen eines
5 anderen Falls dienstlich in der verlassenen Bergregion
6 Lüliang in der Provinz Shanxi gewesen wäre, hätte er ein
7 solch sonderbares Unfallgeschehen für völlig unmöglich
8 gehalten.
9 Es war jedoch gar nicht der Unfall gewesen, der ihn hierher
10 geführt hatte. Sein eigentliches Interesse galt zwei der
11 Personen, die in dem Auto gesessen hatten. Bei beiden
12 handelte es sich um einflussreiche Mitglieder einer Bande
13 von Kunsträubern, die Kommissar Li schon zwei Mal gefasst
14 und festgenommen hatte. Der eine, Liu Xiaoyi, einer ihrer
15 Anführer, war das letzte Mal auf unbegreifliche Wei se aus
16 dem Gefängnis geflohen und nach Brunei entkommen. Als er nun
17 das fast schwarze, verrußte Gesicht dieses Gauners
18 betrachtete, hinter dem er bereits mehrere Jahre her war,
19 der ihm bereits mehrmals ins Netz gegangen, dem aber immer
20 wieder auf spektakuläre Weise die Flucht gelungen war,
21 seufzte er.
22 Genau wie vor drei Jahren, als Liu Xiaoyi im Gerichtssaal
23 aufrecht auf einem hölzernen Schemel gesessen hatte, war
24 seine Miene auch jetzt heiter und gelassen. Damals hatte ein
25 leichtes Lächeln auf seinen Lippen gelegen, auf die Strenge
26 der Richter hatte er mit Verachtung reagiert. Dieses Mal
27 jedoch schien er eher spöttisch darüber zu grinsen, dass
28 Kommissar Li zu spät gekommen war. In der schon erkalteten
Yi Gao: Der römische Ring Seite 3 von 432
1 Hand hielt er eine Ginseng-Wurzel. Ob dies wohl etwas mit
2 dem Fall zu tun hatte?
3 Der Kommissar hob erneut den Kopf und blickte auf einen
4 Punkt auf halber Höhe der Felswand, von der das Auto in die
5 Tiefe gestürzt war. Weiter unten sah man im Dunst die hin
6 und her geisternden Schatten der Beamten der Provinzpolizei.
7 Sie suchten nach Spuren.
8 Li schritt noch einmal die Distanz zwischen dem Bergsockel
9 und der Stelle ab, wo der Jeep nach dem Sturz aufgekommen
10 war. Das war eigentlich überflüssig, denn es stand außer
11 Frage, dass kein Auto - egal ob ein Jeep oder ein x-
12 beliebiges anderes Fahrzeug - nach dem Sturz von der Klippe
13 in so großer Entfernung von der Steilwand gelandet wäre, es
14 sei denn, es wäre vorher zum Rennwagen frisiert worden oder
15 der Fahrer hätte vor dem Absturz absichtlich Gas gegeben.
16 Nur so wäre der große Abstand zwischen der Stelle des
17 Aufpralls und der Klippe zu erklären gewesen. Aber warum gab
18 es auf dem Asphalt keinen Beschleunigungsstrich bzw. Spuren
19 von heißem Gummi? So musste man den Eindruck gewinnen, dass
20 der Jeep nicht in der scharfen Kurve der Höhenstraße von der
21 Fahrbahn abgekommen und dann in die Tiefe gestürzt war,
22 sondern wie ein Flugzeug zuerst mehrere Meter nach vorne
23 geflogen und dann erst gefallen und zu Bruch gegangen war.
24 Noch erstaunlicher war, dass die Insassen bis zu dem Moment,
25 als der Wagen den Boden berührte und in Flammen aufging,
26 offenbar keinerlei Angst gehabt zu haben schienen. Zudem
27 waren sie Hauptverdächtige einer spektakulären
28 Schmuggelaffäre. Der Tatort warf einige Fragen auf.
Yi Gao: Der römische Ring Seite 4 von 432
1 Kommissar Li hatte Aufnahmen gemacht und die Distanz
2 gemessen. Mit dem Bergen der Leichen hatte er keine Eile. Er
3 ging um den Wagen herum und schaute ihn sich mehrmals in der
4 Hoffnung an, ein paar noch so vage Hinweise zu entdecken.
5 Schon bald jedoch stellte er fest, dass seine Kollegen
6 bereits jeden Zoll Erde sorgfältig durchkämmt hatten, und
7 dass es im Umfeld des Unfallwagens tatsächlich keinerlei
8 weitere Indizien gab.
9 Um diese Jahreszeit brach die winterliche Dämmerung sehr
10 rasch herein, bald würde es einen Schneesturm geben. Da
11 Kommissar Li immer noch nichts gefunden hatte, was ihm
12 weiterhalf, beschloss er, die Leichen aus dem Auto entfernen
13 zu lassen und danach mit seinen Nachforschungen
14 fortzufahren. Er wies die Kollegen der Provinzpolizei an,
15 mit Liu Xiaoyi zu beginnen. Die Leiche wurde vorsichtig aus
16 dem Auto gezogen. Die Leichenstarre hatte schon eingesetzt.
17 Er sah aus wie eine Wachsfigur und schien den Kommissar
18 höhnisch anzugrinsen.
19 „Einen Moment bitte“ . Kommissar Li gab den beiden Polizisten
20 ein Zeichen. Sie hielten inne. Er näherte sich dem
21 aufgerichteten Leichnam und entdeckte an seinem verkohlten
22 Rumpf eine schwarze, an der Hüfte befestigte kleine Tasche.
23 Als er, nachdem er sich Handschuhe übergestreift hatte,
24 vorsichtig versuchte, den Gürtel zu lösen, gab dieser, vom
25 Feuer brüchig geworden, sofort mit einem knackenden Geräusch
26 nach. Eine vom Ruß geschwärzte Ledertasche fiel Kommissar Li
27 entgegen.
Yi Gao: Der römische Ring Seite 5 von 432
1 Er gab die Leiche frei. Die Polizisten hoben sie hoch und
2 deponierten sie an einer weiter entfernten Stelle.
3
4 Es handelte sich um eine kompakte Hüfttasche. War sie einmal
5 am Gürtel befestigt, kostete es einige Mühe, sie wieder zu
6 entfernen. Kunstschmuggler verwendeten häufig diese Art von
7 Taschen, denn sie waren nicht nur robust, sondern auch
8 leicht zu verbergen.
9 Bevor Hauptkommissar Li die Tasche öffnete, spürte er, dass
10 irgendetwas an ihr sonderbar war.
11 Vorher war ihm aufgefallen, dass der Gürtel durch die heiße
12 Glut stark verkohlt war. Merkwürdigerweise jedoch hatte die
13 Tasche, die sich direkt neben der Gürtelschnalle befunden
14 hatte, durch das Feuer keinen nennenswerten Schaden
15 erlitten. Vorsichtig rieb er mit der Hand die Asche ab.
16 Sogleich wirkte sie wie neu. Außen glänzte sie, innen fühlte
17 sie sich weich an. Auch ihre Farbe hatte die ursprüngliche
18 Leuchtkraft behalten.
19 Behutsam öffnete Hauptkommissar Li die Tasche. Innen verbarg
20 sich ein straff geschnürtes Bündel hochwertiger Seide, das
21 er Lage für Lage aufwickelte bis er zur letzten gelangte.
22 Vor ihm lag ein mit Gold eingefasster Diamantring.
23 ……
24
25
Yi Gao: Der römische Ring Seite 6 von 432
1 2
2
3 Wenjing hatte den Haupteingang der Universität noch nicht
4 erreicht, als sie von weitem An Fanke erblickte, der
5 grinsend am Fensterbrett des Wachhäuschens am Eingang zum
6 Campus lehnte und auf sie wartete.
7 In der ganzen Universität hatte man darüber gerätselt,
8 welcher der zahlreichen ethnischen Minderheiten Chinas An
9 Fanke angehören könnte. Er war hoch gewachsen, hatte breite
10 Schultern und trug Jeans, die seine langen Beine sehr gut
11 zur Geltung brachten. Damit unterschied er sich vom
12 Körperbau sehr stark von den eher kleinen und zierlichen
13 Han-Chinesen.
14 Es genügte ein flüchtiger Blick, um festzustellen, dass
15 seine Haare einen Stich ins Blonde hatten, und dass seine
16 Augen blau waren.
17 Die meisten hielten ihn für einen Kasachen, andere glaubten,
18 er sei Uigure. Wenn er nicht wie alle anderen im Studenten-
19 Wohnheim für einheimische Studenten gewohnt hätte, hätte man
20 ihn sogar für einen Europäer halten können.
21 In den ersten Monaten hatte sich An Fanke wegen seines
22 fremdartigen Aussehens minderwertig gefühlt. Dieser Komplex
23 hatte sich unter den Bewohnern seines Dorfes im Laufe vieler
24 Jahrzehnte entwickelt und war allen zur Gewohnheit geworden.
25 Von früher Kindheit an hatten ihn die Erwachsenen gelehrt,
26 Konflikten mit den Chinesen aus dem Weg zu gehen, lieber
27 stillzuhalten, lieber nachzugeben, wenn es eine
Yi Gao: Der römische Ring Seite 7 von 432
1 Auseinandersetzung gab, sich rasch zu ducken und auf gar
2 keinen Fall einen Streit heraufzubeschwören.
3 Als er auf Grund seiner guten Leistungen in das Gymnasium in
4 der Bezirksstadt aufgenommen worden war, hatte er die meiste
5 Zeit in seinem Zimmer gehockt und den Kontakt zu den anderen
6 gemieden. Dies hatte sich auch nicht geändert, nachdem er
7 die Aufnahmeprüfung für die Universität bestanden hatte.
8 Wann immer er unter Leuten war, wagte er kaum, den Kopf zu
9 heben, weil er spürte, dass man ihn unentwegt anstarrte.
10 Stets ging er davon aus, dass die anderen ihn provo zieren
11 würden und etwas gegen ihn hatten. Dieses Gefühl zermürbte
12 ihn - bis er Wenjing traf.
13 Es war keineswegs eine Folge von Zufällen oder ein
14 unvorhergesehenes, die Welt aus den Angeln hebendes Ereignis
15 gewesen, das sie zusammengeführt hatte, so wie es in manchen
16 Romanen beschrieben wird. Wenjing war schlicht die erste
17 Studentin gewesen, der An Fanke bei der
18 Immatrikulationsstelle über den Weg gelaufen war.
19 Damals hatte er den Dozenten aufgesucht, der für
20 administrative Angelegenheiten und für die Registrierung der
21 neuen Studenten zuständig war. Kaum hatte er zu sprechen
22 begonnen, hatte der Dozent erstaunt aufgehorcht, denn er
23 verstand nicht, was er sagte, und hielt ihn für einen
24 Ausländer, der sich in der Tür geirrt hatte. Wenjing jedoch,
25 die sich ebenfalls anmelden wollte und nicht weit von ihm
26 entfernt stand, hörte ihn reden und erkannte sofort, dass er
27 kein Ausländer war, denn er sprach den typischen Dialekt der
28 Leute aus dem Nordwesten Chinas mit Betonung der nasalen
Yi Gao: Der römische Ring Seite 8 von 432
1 Laute und einer weichen Aussprache. Ohne zu zögern hatte sie
2 sich zu ihm gesellt, um ihm zu helfen.
3 Die Universität Beijing gehörte zu den renommiertesten
4 Universitäten des ganzen Landes, und es war hier üblich,
5 Mandarin zu sprechen. Selbst von den neu immatrikulierten
6 Studenten von auswärts wurde erwartet, dass sie ein paar
7 rudimentäre Sätze Mandarin beherrschten. Wann immer An Fanke
8 daher den Mund aufmachte und sein Anliegen mit dem starken
9 Akzent des Nordwestens vortrug, verstand ihn natürlich
10 zunächst kein Mensch.
11 Der Zufall wollte es, dass Wenjings Mutter in der Provinz
12 Shanxi geboren und aufgewachsen war. Der nordwestliche
13 Akzent war Wenjing daher von klein auf vertraut. Zwar
14 beherrschte sie die Hochsprache Beijings akzentfrei, der
15 Dialekt des Nordwestens war für sie jedoch so etwas wie die
16 zweite Muttersprache, in der sie sich mühelos verständigen
17 konnte. Deshalb ging sie nun auf An Fanke zu, erklärte dem
18 für die Immatrikulation zuständigen Dozenten, weswegen er
19 gekommen war, und sorgte auf diese Weise für eine
20 Entkrampfung der peinlichen Situation. Während sie ihm bei
21 all den notwendigen Formalitäten half, stellte sie fest,
22 dass sie der gleichen Fakultät angehörten. Kurzentschlossen
23 übernahm sie vorübergehend die Funktion seiner Übersetzerin
24 und nach wenigen Tagen hatten sie sich angefreundet.
25 Die Region, aus der An Fanke stammte, gehörte zu den
26 entlegensten Gebieten Chinas. Zwar hatte er das Gymnasium
27 der Bezirkshauptstadt besucht, dem Erlernen der Hochsprache
28 war hier jedoch keine allzu große Bedeutung beigemessen
Yi Gao: Der römische Ring Seite 9 von 432
1 worden. Nach der Einschreibung wussten nur Wenjing und ein
2 paar andere Studenten, dass er in der kargen Hochebene des
3 Nordwestens in ärmlichen Verhältnissen aufgewachsen und
4 somit als richtiges Landei zu betrachten war. Sein
5 ungewöhnlicher Körperbau und sein europäisch-amerikanisches
6 Aussehen – so mutmaßte man - waren wahrscheinlich darauf
7 zurückzuführen, dass man ihn zu lange im Wasser des Gelben
8 Flusses gebadet hatte, oder dass er zu stark dem heftigen
9 Wüstenwind der Hochebene ausgesetzt gewesen war.
10 Wenjing hatte sich rasch an seinen Dialekt gewöhnt, legte
11 aber Wert darauf, ihm ein adäquates Mandarin beizubringen.
12 Unter der Woche besuchten sie gemeinsam die Vorlesungen an
13 der Uni, am Wochenende streiften sie durch die großen,
14 belebten Straßen Beijings. An Fanke, für den die Großstadt
15 neu war, kam aus dem Staunen nicht heraus. Mit leuchtenden
16 Augen zeigte er für jede Einzelheit Interesse und konnte
17 sich gar nicht satt sehen. Häufig war er sprachlos vor
18 Verwunderung.
19 Wenjing war eine kluge und liebenswerte junge Frau. Sie war
20 in Beijing geboren und von dem hier herrschenden Trubel
21 nicht mehr aus der Fassung zu bringen. Ihr attraktives
22 Aussehen, ihre zierliche Figur, ihr hübsches Gesicht, alles
23 übte eine starke Anziehungskraft auf den eben erst der
24 Provinz entronnenen An Fanke aus.
25 Natürlich war er sich darüber bewusst, dass sie aus völlig
26 unterschiedlichen sozialen Verhältnissen stammten, und dass
27 Wenjing für ihn unerreichbar war. Er konnte sie von der
28 Ferne aus betrachten, würde jedoch nie an sie heranreichen.
Yi Gao: Der römische Ring Seite 10 von 432
1 Dennoch hatte sich zaghaft eine zärtliche Zuneigung zwischen
2 ihnen entwickelt, nachdem sie sich näher kennengelernt
3 hatten, und sie war schließlich seine Freundin geworden.
4 An Fanke brauchte einige Zeit, um dieses Glück zu begreifen.
5 Zwar konnte er nachts, wenn er in der Dunkelheit seinen
6 Gedanken nachhing, oft nicht glauben, dass all das wahr war,
7 und dann befiel ihn plötzlich eine irreale Angst. Sobald
8 aber der Tag anbrach und Wenjing wie üblich lächelnd am
9 Eingang des Wohnheims auftauchte, verflogen seine düsteren
10 Bedenken im Nu. Dann war er überglücklich, denn er wusste,
11 dass er all das Schöne, das ihm zu Teil wurde, nicht nur
12 geträumt hatte.
13 Nach einigen Monaten des Studentenlebens bewirkten die
14 Stille in den Seminarräumen, die mit Leben gefüllte Mensa
15 und die lauschigen Plätze im Schatten der Weiden am Seeufer
16 bei An Fanke einen grundlegenden Wandel. Dies betraf zu
17 allererst seine Aussprache. Jeden Morgen zwang ihn Wenjing,
18 Mandarin wie eine Fremdsprache zu üben, so dass er sich
19 allmählich einen typischen Beijinger Akzent aneignete. Dank
20 Wenjings konsequenter und geduldiger Verbesserungen und nach
21 monatelangem, pausenlosem Training, hatte sich seine
22 Aussprache völlig verändert. Der nordwestliche Akzent hatte
23 sich verflüchtigt und war durch ein noch etwas künstliches,
24 aber stilistisch einwandfreies Mandarin ersetzt worden.
25 Danach nahmen sie seine Umgangsformen in Angriff. Wenjing
26 gab ihm einen gewissen gesellschaftlichen Schliff und
27 brachte ihm ein elegantes Auftreten bei. Rasch verfügte er
28 in Gestik und Verhalten über die Lässigkeit und Souveränität
29 der Hauptstadt-Studenten. Noch bevor das erste Studienjahr
Yi Gao: Der römische Ring Seite 11 von 432
1 zu Ende gegangen war, fühlte er sich schon fast wie ein
2 richtiger Großstädter.
3
4 „Wohin gehen wir heute?“, fragte An Fanke in seinem noch
5 etwas aufgesetzten Mandarin, als Wenjing auf ihn zugelaufen
6 kam. „Nicht schlecht, du machst Fortschritte“ . Tatsächlich
7 empfand sie seine Aussprache als gezwungen und unnatürlich
8 und konnte sich daher ein Lächeln nicht verkneifen.
9 Aufmunternd erwiderte sie jedoch: „Hattest du nicht vor, in
10 den Neujahrsferien nach Hause zu fahren? Wir sollten zur
11 Wangfujing fahren und ein paar Mitbringsel für deine Familie
12 kaufen.“
13 „Das kommt gar nicht in Frage! Ich wollte mit dir bummeln
14 gehen und nicht wegen meiner eigenen Einkäufe in die Stadt“,
15 druckste An Fanke herum.
16 „Quatsch! Komm, lass uns gehen“ . Wenjing zerrte ihn am
17 Ärmel.
18 An Fanke trottete folgsam hinter ihr her und sie verließen
19 das Universitätsgelände. Zwei Wachmänner, die ihr Gespräch
20 mitbekommen hatten, standen mit vor Kälte schlotternden
21 Beinen vor dem Campuseingang und amüsierten sich im Stillen.
22 „Wo der wohl herkommt? Ist das ein Ausländer?“ fragte der
23 eine Wachmann den anderen.
24 „Ich weiß es nicht genau. Ich habe ihn schon ein paar Mal
25 gesehen. Auf jeden Fall spricht er Mandarin, aber nicht so
Yi Gao: Der römische Ring Seite 12 von 432
1 komisch wie die Ausländer, sondern eher unbeholfen wie die
2 Leute vom Land“ .
3 An Fanke hörte nicht, was die Wachleute sagten, Wenjing und
4 er hatten schon die Bushaltestelle auf der anderen
5 Straßenseite erreicht.
6 Wie immer waren die Straßen Beijings verstopft, unzählige
7 Menschen waren unterwegs. Autos und Fahrräder zwängten und
8 drängelten sich durch den Verkehr, keiner ließ dem anderen
9 die Vorfahrt. An Fanke beobachtete, wie ein Busfahrer
10 geschickt den Bus durch die Menschenmassen und eine Horde
11 von Fahrradfahrern hindurch manövrierte. Dabei musste er auf
12 die unkontrolliert die Straße überquerenden Menschen achten,
13 und es grenzte an ein Wunder, dass er niemanden anfuhr. Sehr
14 gekonnt, dachte An Fanke und seufzte bewundernd auf.
15 „Nach dem Examen werde ich auch Busfahrer“, erklärte er mit
16 dem Brustton der Überzeugung.
17 „Busfahrer? Was für hochfliegende Pläne!“ Wen Jing hielt
18 sich den Mund vor Lachen. „Du willst wirklich in dein
19 Heimatdorf zurückkehren und Busfahrer werden?“
20 „Nein, kein Busfahrer“ . An Fanke merkte, dass er schon
21 wieder etwas Falsches gesagt hatte und verbesserte sich
22 rasch. „Ich werde einen PKW fahren, mein eigenes Auto, hier
23 in Beijing“ .
24 Wenjing lachte und gab ihm einen Klaps. „Vergiss es. Komm,
25 lass uns zum Bus gehen!“
26
Yi Gao: Der römische Ring Seite 13 von 432
1 Nach einem kurzen Moment jedoch blieb An Fanke stehen.
2 „Wenjing,“ sagte er verlegen. „Ich habe gestern in der
3 Ramschabteilung des Zhongguancun-Elektrogroßmarktes einen
4 Walkman entdeckt, den ich gerne kaufen würde“ .
5 „Zhongguancun? Meinst du den großen Elektromarkt bei der
6 Universität?“
7 „Ja. Ist es in Ordnung, wenn wir etwas später loskommen. Ich
8 habe Sorge, dass er ausverkauft sein könnte, wenn ich mich
9 nicht beeile“ .
10 Wenjing war belustigt. Jedem war bekannt, dass dieser
11 Elektromarkt sehr offensiv seine Ware an den Mann zu bringen
12 versuchte. Die Sorge, zu spät zu kommen und vor
13 ausverkauften Regalen zu stehen, war völlig überflüssig!
14 Als An Fanke dann auf einen Verkaufstisch in einem
15 abgelegenen Winkel des Kaufhauses zusteuerte, konnte sie das
16 Lachen nicht mehr unterdrücken.
17 Es war ein längst aus der Mode gekommener Walkman mit
18 Kassettenrekorder aus dem letzten Jahrhundert, auf den An
19 Fanke so versessen war. Selbst Grundschüler schenkten einem
20 solchen Gerät keine Beachtung mehr.
21 Immerhin war er billig, man bekam ihn nahezu umsonst.
22 Wenjing beobachtete lächelnd wie An Fanke den Walkman
23 bezahlte und ihn fast zärtlich in seinen Rucksack packte.
24 Sie mochte seine Sparsamkeit und seine konservative Art. In
25 der heutigen, von Konsumsucht geprägten Zeit waren
26 traditionell denkende, konventionelle Männer selten geworden.
Yi Gao: Der römische Ring Seite 14 von 432
1 Zugegeben war er ein wenig hausbacken und knausrig, ja, fast
2 geizig. Aber Wenjing mochte solch altmodische Menschen und
3 verabscheute all jene sich so betont lässig gebenden und vor
4 Frauen den Mund voll nehmenden, eigentlich aber noch völlig
5 unreifen Milchbubis.
6 An Fanke hatte gezahlt und schickte sich gerade zum Gehen an,
7 als Wenjing ihn zurückhielt. „Ich kaufe mir auch einen“ .
8 Ihm war unbehaglich zumute. „Du kannst unmöglich so ein
9 primitives Gerät kaufen. Ich hätte dir eben eines besorgt,
10 aber hast du nicht schon einen MP3-Player?“
11 „Ich möchte aber das gleiche haben wie du“, erwiderte sie
12 entschlossen. „Ich will auch nicht, dass du ihn für mich
13 kaufst, sondern möchte ihn selbst bezahlen. Dann haben wir
14 den gleichen Walkman und etwas, was uns immer an den |
|